Meldung bei Verdacht auf Kindesmisshandlung
Bei der Erörterung der Schweigepflicht ist mir mehrfach die Frage zugetragen worden, wie der Arzt oder Zahnarzt sich verhalten darf, wenn er aus Anlass der Behandlung eines Kindes den Verdacht schöpft, dass ein Fall von Kindesmisshandlung vorliegt. Hier haben wir es mit einer Güterabwägung zu tun: Das vermeintlich gefährdete Kindeswohl ist abzuwägen mit den Interessen der Eltern, sie vor unberechtigten Vorwürfen zu schützen. Maßgebend ist insoweit § 34 des Strafgesetzbuches (=StGB). Diese Bestimmung besagt vereinfacht, wer eine Rechtsgutverletzung (Schweigepflichtverletzung) begeht, um die Gefahr von einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Außerdem muss die Tat, nämlich die Verletzung der Schweigepflicht, ein angemessenes Mittel sein, die Gefahr abzuwenden.
Wenden wir uns nach diesen theoretischen Erörterungen einem konkreten Fall zu, den das Kammergericht Berlin in seinem Urteil vom 27.06.2013 (20 U 19/12) zu entscheiden hatte. Während einer ärztlichen Behandlung wurde bei einem Säugling eine subdurale Blutung beidseits und Netzhautablösung beidseits diagnostiziert, die Fontanelle war vorgewölbt. Die Mitarbeiter des Arztes teilten dem Landeskriminalamt und dem Jugendamt mit, dass bei dem Säugling typische Verletzungen vorliegen, die auf ein sogenanntes Schütteltrauma hindeuten, deren Herkunft jedoch ungeklärt sei. Die Eltern des Kindes wurden vernommen und in Haft genommen. Sie machten den behandelnden Arzt wegen Verletzung der Schweigepflicht verantwortlich, weil er durch seine Mitarbeiter das Landeskriminalamt und das Jugendamt informiert hätte. Sie verlangten wegen Verletzung der Schweigepflicht Schmerzensgeld.
Das Kammergericht Berlin wies die Klage ab. Aus der Entscheidung sind folgende Lehren zu entnehmen:
Entscheidend sei, dass der behandelnde Arzt angesichts der für ein Schütteltraume typischen Verletzungen annehmen durfte, dass möglicherweise eine Fall der Kindesmisshandlung vorliegt. Das hätte der Arzt aus damaliger Sicht auch annehmen dürfen, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die Verletzungen tatsächlich durch andere Umstände verursacht worden seien. Die strafrechtliche Beurteilung ist letztlich irrelevant und kann auch nicht von den Ärzten verlangt werden. Andererseits muss es sich um typische Verletzungen handeln, die durch den Verdacht der Kindesmisshandlung verursacht worden sind. Maßgebend sind insoweit auch die Unfalldarstellungen der Eltern. Hat das Kind sich Hämatome zugezogen und ist es nach Darstellung der Eltern gegen den Türrahmen der Wohnzimmertür gestolpert, sind die Verletzung lebensnah und zwanglos schlüssig erklärt worden, da derartige Spielunfälle geradezu typisch für Kinder sind.
Im Raum steht allein die Frage, ob eine Wiederholungsgefahr im Einzelfall anzunehmen ist, denn nur dann ist es trotz ärztlicher Schweigepflicht gerechtfertigt, dass die Ärzte die Behörden informieren, damit künftige Gesundheitsschäden abgewendet werden. Der Heilauftrag der behandelnden Ärzte umfasst nicht nur das Erkennen und die Behandlung von Erkrankungen, sondern auch die Vermeidung von künftigen Gesundheitsgefährdungen. Besteht der Verdacht vorsätzlich zugefügter Verletzungen, so liege die Wiederholungsgefahr auf der Hand. Auch wenn „nur” eine vorsätzliche Körperverletzung im Raum steht, ist zumindest bei derart schwerwiegenden Verletzungen, die lebensbedrohlich sind, von einer Wiederholungsgefahr auszugehen.
Das Gericht hat sodann anerkannt, dass Kindeseltern, die dem Verdacht einer Kindesmisshandlung ausgesetzt sind, erheblichen Belastungen unterliegen. Im entschiedenen Fall waren die Eltern bei den „psychosozialen Gesprächen” einer Vorverurteilung ausgesetzt. Die Gespräche waren klinikintern im Sinne einer Anschuldigung und Vorverurteilung empfunden worden. Das Gericht hält es ausdrücklich für wünschenswert, dass derartige „Konfrontationsgespräche”, deren Berechtigung und Notwendigkeit das Gericht nicht anzweifelt, von Seiten der entsprechenden Mitarbeiter unter dem Blickwinkel geführt werden, dass die Kindeseltern als nicht schuldig anzusehen sind und auch dementsprechend behandelt werden, solange aufgrund von Ermittlungen nicht das Gegenteil feststeht. Andererseits stellt das Gericht aber fest, dass Kindeseltern, die dem Verdacht einer Kindesmisshandlung ausgesetzt sind, solche Belastungen hinzunehmen haben, welche Maßnahmen auslösen, die in der Absicht getroffen werden, das vermeintlich gefährdete Kindeswohl, welches Vorrang vor den Befindlichkeiten der Eltern hat, zu schützen.
Bemerkenswert sind auch die Ausführungen des Gerichts, dass entscheidend für die Berechtigung zum Bruch der Schweigepflicht ein Verdacht sei und es nicht Aufgabe der Ärzte sei, einen Verdacht „auszuermitteln”, d.h. definitiv zu klären, welche Ursache eine Verletzung hat. Ausreichend sei allein, dass die betreffenden Verletzungen typischerweise durch Kindesmisshandlung hervorgerufen werden und insoweit ein „begründeter” Verdacht vorhanden ist.
Die Entscheidung des Gerichts stellt Maßstäbe auf, die im Falle des Verdachts der Kindesmisshandlung aufgrund diesbezüglich typischer Verletzungen nicht nur von Ärzten, sondern auch von Zahnärzten und eigentlich allen Stellen, bei denen begründete Verdacht entsteht, zu beachten sind.
Eine Offenbarung und damit eine Verletzung der Schweigepflicht ist in diesen Fällen gerechtfertigt und damit straffrei. Leichtfertige Behauptungen sind dagegen wegen der hierdurch hervorgerufenen Folgen für die Kindeseltern nicht strafbefreiend, wobei dem Anzeigenden nicht die Pflicht obliegt, zu entscheiden, ob andere Ursachen die Verletzungen herbeigeführt haben könnten.
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