Hamburg/ Essen – Bundesgesundheitsminister Lauterbach kündigte dieser Tage einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Medizindaten an: Statt wie bisher unter der ärztlichen Schweigepflicht stehend, sollen künftig die Krankheitsdaten aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ab deren Geburt automatisiert und verpflichtend aus den Praxen heraus in zentralen Datensammlungen gespeichert werden. Um dann künftig dort auf Anfrage jedem, der den Anspruch erhebt, „etwas mit Medizin zu tun zu haben“ für Auswertungen in Deutschland und im von der EU-Kommission geplanten „Europäischen Gesundheitsdatenraum“ EHDS zur Verfügung zu stehen. Unabhängig davon, ob es um Pharmaforschung, Gesundheitspolitik oder Gesundheitswirtschaft geht. Ein staatliches Forschungsdatenzentrum soll über die Freigabe entscheiden. Ziel der EU-Kommission ist zugleich, dass diese Krankheitsdaten künftig auch europaweit angefordert und ausgewertet werden können, im Falle der sogenannten „Forschungsinteressen“ ohne jede Möglichkeit des betroffenen Patienten, zu widersprechen.
„Die gesamte Planung zielt darauf ab, die ärztliche Schweigepflicht aufzuheben, und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten gleich mit“, kritisiert Dr. Silke Lüder, stellvertretende Vorsitzende der Freien Ärzteschaft und Allgemeinärztin in Hamburg, das Vorhaben scharf.
Ärztlicher Vertrauensraum statt Europäischer Datenraum
Der Schutz der Krankheitsdaten im Vertrauensraums von Arztpraxen und Kliniken bleibt aber wie bisher eine wesentliche Grundlage unserer Tätigkeit“ so die Ärztin. „Ohne diesen geschützten Raum können wir weder richtige Diagnosen stellen, noch eine sachgemäße Behandlung durchführen“, erläutert Frau Dr. Lüder. „Wenn sich die Menschen nicht mehr sicher sein können, dass das, was dort gesprochen wird, auch in diesem Raum bleibt, werden sie sich künftig nicht mehr offen äußern oder schlimmstenfalls nicht mehr zum Arzt gehen“.
Unehrlicher Bluff mit der Freiwilligkeit
„Jahrzehntelang wurde versprochen, dass die Einführung einer zentralen Krankheitsakte namens EPA (Elektronische Patientenakte) für die Versicherten freiwillig sei. Nun, da seit 2 Jahren faktisch kein Interesse bei den Bürgern an der Akte feststellbar ist, macht Herr Lauterbach eine Kehrwende um 180 Grad, und will das Ganze verpflichtend machen. Nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Ärztinnen und Ärzte“, kritisiert der Vorsitzende der Freien Ärzteschaft, Wieland Dietrich. „Dies zeigt die Unehrlichkeit der politischen Argumentation ebenso wie die Stärke der Lobbyinteressen der Gesundheitswirtschaft, die im internationalen Konkurrenzkampf um die Krankheitsdaten mehr verdienen will. Für eine gute Medizin in unserem Land sind aber ganz andere Dinge wichtig,“ ergänzt Dietrich. „Die Diskussion, ob Politiker das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Bürger im Hinblick auf seine intimsten Daten mit einem Federstrich aushebeln dürfen, ist eröffnet!“
Was für gute Medizin wirklich wichtig ist
„Wichtig für eine gute Medizin wären ganz andere Dinge: eine ordentliche Finanzierung der ambulanten Medizin, das Herunterfahren der absurden Bürokratie in den Arztpraxen, genügend Personal in Praxen, Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Stattdessen werden dem Gesundheitswesen seit 20 Jahren Milliarden entzogen, um ein völlig verfehltes Telematik-Projekt zu forcieren, welches bisher ein totaler Flop ist. Und nun auch noch den Datenschutz national und international auszuhebeln, würde weder das Vertrauen in die Politik stärken noch die Medizin verbessern“, ergänzt Dietrich. „Wir werden unseren Einsatz für den Erhalt der ärztlichen Schweigepflicht und die Selbstbestimmung unserer Patienten gemeinsam mit Patientenverbänden und Datenschutzorganisationen künftig verstärken“.