Erster oder zweiter Klasse?
Verbindungen zwischen Bahn und Gesundheitssystem
Zunächst die frohe Botschaft, dass es der Deutschen Bahn kürzlich gelungen ist, eine schnelle Trasse zwischen den Machtzentren Berlin und München aufzuschütten.
Nunmehr ist es möglich, innerhalb von rund 4 Stunden die Eliten dieses Landes und andere eilige Menschen mit dem ICE-Sprinter komfortabel und mit bis zu 300 km/h schnell über rund 623 km, wenn es widrige Winde, Laub, Schnee, die Technik oder andere irdische Umstände zulassen, zu ihren Wirkungsstätten zu transportieren. Etwa 10 Milliarden Euro sind von der Aktiengesellschaft Deutsche Bahn, deren Aktien gottlob noch nicht als Spekulationsobjekt gehandelt werden, in das Projekt geflossen. Dass dann noch Geld für das unterirdische Projekt Stuttgart 21 (oder 26) übrig bleibt, zeugt von finanzpolitischer Kompetenz der politischen Macher und dem filigranen Gespür eines politisch verantwortlichen Verkehrsministers, der die segensreiche Idee einer Ausländermaut entwickelt hat und unter dessen Ober-Aufsicht es gelungen ist, den Berliner Flughafen BER zu einem Freigelände für Planungsfehler zu machen .
Wer macht etwas falsch?
Die schnelle Fahrt von Berlin nach München ist in der zweiten Klasse (ohne Sitzplatzgarantie!) zum Preis von 150 Euro und in der ersten Klasse für dreiste 253 Euro zu haben. Nur zum Vergleich: Eine Bahnfahrt von Paris nach Marseille über 752 km kostet bei der Französischen Staatsbahn SNCF im bis zu 320 km/h schnellen „Train à grande vitese“ (TGV) bei einer Fahrzeit von 3:15 Stunden 102 Euro, und in der 1. Klasse stehen 110 Euro auf dem Zettel. Stehplätze verkauft die französische Staatsbahn im Gegensatz zur DB ohnehin nicht.
Was beide Systeme eint, ist die „Klassenfahrt“ – die Möglichkeit der Wahl zwischen erster und zweiter Klasse, die zwar die Fahrzeit nicht verkürzt, aber gegen Aufpreis ein Mehr an Komfort bietet – vom größeren Platzangebot bis zum Menü-Bringdienst durch das freundliche und zuweilen perfekt Englisch sprechende Bahnpersonal. Ist ein solcher Klassenunterschied nicht anachronistisch, am Ende nicht unsozial und politisch obsolet? Ist er imstande, dort Ungerechtigkeit zu fixieren, wo es um das Grundrecht der Reisefreiheit für alle geht?
Zwar muss der Zweite-Klasse-Fahrgast nicht befürchten, dass ihm, wie in weit östlich gelegenen Ländern, Ziegen und Hühner über die Füße laufen, aber er hat zugegebenermaßen weniger Platz für seine Beine, und er muss gelegentlich den Frohsinn mitreisender Kegelbrüder in Kauf nehmen, die den Weg in die erste Klasse eher nicht finden. Immerhin, sein Ziel, von A nach B unter dem Strich komfortabel in derselben Zeit zu erreichen wie der „Erstklässler“, ist sicher. Wer also darüber hinaus mehr Komfort erhalten möchte, muss dafür individuell aufkommen – und dass nicht nur bei der Bahn, sondern auch im Restaurant, wo der Gast preiswert an Hähnchenflügeln nagen, oder sich zum höheren Preis am Rindsfilet an Ingwersauce und Preiselbeerschaum delektieren kann.
Niemand würde auf die Idee kommen, dem Gourmet den Zusatzgenuss auf eigene Kosten zu verbieten – und zu allerletzt die Feinschmecker aus den Reihen der Berliner Berufspolitik.
Parallelen nicht zufällig
Spätestens jetzt wird es Zeit, aufgrund der Parallelen einen Blick auf das Gesundheitssystem zu werfen, in dem nach Auffassung einiger zu gleichen Teilen nach Gerechtigkeit und Popularität lechzender Berufspolitiker ein Zweiklassensystem das Wohlbefinden und die Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig gefährdet. Dieses sei daher unbedingt zu beseitigen, um das System durch Einführung der sog. Bürgerversicherung billiger, effizienter und vor allem gerechter zu machen. Ein Begriff, der bei der weitgehend unwissenden Bevölkerung Sympathie erweckt, weil das schlichte Gemüt meint, dass man den privat Versicherten nur etwas versagen muss, um einen Automatismus in Gang zu setzen, der den gesetzlich Versicherten Bürgern Verbesserungen beschert.
Wer würde auf den Gedanken kommen, dass die „Zweitklässler“ im ICE irgendeinen Vorteil von der Verschrottung der „erstklassigen“ Waggons hätten? Während derzeit die meist „höheren“ PKV Honorare einschließlich der Komfort- und Mehrleistungen den Praxiserhalt und deren Innovationen sichern und den enormen Bürokratieaufwand stützten, wäre das bei einheitlichen GKV-Honoraren nicht mehr möglich. Dass das PKV-System das GKV-System im ambulanten Bereich quersubventioniert, gestehen inzwischen selbst hochrangige Genossen ein – jedenfalls diejenigen, die jenseits rein ideologischer Betrachtungen Tatsachen vernetzen und nicht zuletzt rechnen können. Auch, dass die eigentliche medizinische Behandlung (mit Ausnahme der Komfortvarianten) in beiden Systemen dieselbe ist, hat sich unter Politikern herumgesprochen. Was bleibt, ist die blanke Ideologie, angepriesen als „Leuchtturmprojekt“ der Sozialdemokratie. Die Bürgerversicherung würde keine Verbesserung für alle Versicherten bringen, aber unkalkulierbare Probleme schaffen, die es bislang nicht gibt.
Bürgerversicherung als Ideologische Monstranz
Zwar lässt die geschäftsführende Bundeskanzlerin vor Beginn der Koalitionsverhandlungen zum 2. Aufguss der GroKo verlauten, dass es mit ihr eine Bürgerversicherung nicht geben werde, aber sie öffnet zugleich einen Spalt breit ein Hintertürchen, indem sie einräumt, dass sich über eine vereinheitlichte Gebührenordnung für GKV und PKV reden ließe. Dass die Bundeskanzlerin Flexibilität besitzt, hat sie bereits mit dem Ausspruch bewiesen, dass es mit ihr keine PKW-Maut geben werde. Natürlich stellt eine einheitliche Gebührenordnung kein Hintertürchen dar, sondern das Hauptportal für alle Lauterbachs der Republik, die das PKV-System beseitigen wollen. Von jenem „Fliegenträger“ aus Köln, der bereits als zukünftiger Gesundheitsminister einer neuen GroKo gehandelt wird, wird zugleich als Sedativum die Mär von der finanziellen Volumenneutralität zur Sicherung der Arztsitze gestreut – GOÄ/Z herunter, BEMA herauf. Wer diesen Sirenengesängen traut, hat auch kein Problem mit dem Enkeltrick.
Schließlich sei nach allgemeiner und ideologiebefreiter Lebenserfahrung daran erinnert, dass einem „Einklassensystem“ automatisch ein schattenhaftes „Mehrklassensystem“ folgt. Wer beispielsweise in Italien einen Turbotermin oder eine Edelbehandlung wünscht, der bringt zum Behandlungsbeginn etwas Verbindendes mit, das über die Tischkante gleitet. Das ist die wahre Mehrklassenmedizin.
Wer nun die Axt an unser bewährtes, weltweit geachtetes und in der Regel gut funktionierendes duales Gesundheitssystem legen möchte, zeigt außer Parteidisziplin wenig Weitblick und noch weniger Verantwortung.
Die Beseitigung des dualen Systems lässt unter dem Strich die Wahl zwischen „teurer“ und „teurer“, aber auf jeden Fall schlechter – und das gleichermaßen für Patienten und Behandler!
Ist es das, was wir im Namen einer imaginären Gerechtigkeit für unser Land wünschen?
Dr. Michael Loewener,
Wedemark