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Digitalisierung um jeden Preis?

28. September 2018 9:00

Nahezu täglich hören wir aus den Medien die frohe Botschaft der Digitalisierung. Ob Schule, Unternehmen, Ämter oder Medizinbetrieb – überall sei ein erheblicher Mangel an Digitalisierung festzustellen, der das Gemeinwesen ins Unglück und in den Verfall zu stürzen drohe. Digitalisierung sei druckvoll voranzutreiben, damit die Wirtschaft nicht den Anschluss an die bereits hervorragend digitalisierte Nachbarschaft verlieren möge, damit der Gesundungsprozess der Bevölkerung keinen Schaden nehme und überhaupt der Fortschritt bis hin zur digital gesteuerten Wiederbefüllung des heimischen Kühlschranks nicht behindert werde.

Bei diesem Aufwand und der gebetsmühlenartigen Wiederholung der Durchsage könnte sich die Frage aufdrängen, wer denn ein massives Interesse an einer alle Lebensbereiche durchdringenden Digitalisierung haben könnte. Die Medien machen sich dabei zum gern gesehenen „Lautsprecher” derer, die – natürlich nur unter rein volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten – einen Verkaufsdruck des Digitalen erzeugen möchten. Aber auch die in Verantwortung stehenden Politiker sind als „Universal-Dilletanten” (Originalton Sigmar Gabriel) gerne bereit, die Sprechblasen der Hard- und Softwareproduzenten mit neuer Luft zu füllen, verbirgt sich doch hinter dem Wort „Digitalisierung” die Sehnsucht nach endlosem Fortschritt, nach Freiheit und Wohlstand. Welcher Politiktreibende möchte vor seinem Publikum als analoger Mensch oder digitales Fossil zurückbleiben?

Die „Digitalisierung” hat inzwischen einen Beschleunigungsprozess erfahren, bei dem die Frage nach Sinn und Unsinn sehr nahe beieinander liegen können. Es hat eine Jagd nach dem nächsten Schritt eingesetzt, eine Ruhelosigkeit, die Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen entfaltet. Der Blick in die Zukunft lenkt mehr und mehr vom Leben in der Gegenwart ab.

Digitale „Drückerkolonne”?
Zurück zu den Fakten: Der Zusammenschluss von mehr als 2.600 Unternehmen der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche firmiert unter der Bezeichnung „Bitkom” – „Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V.”. Nach eigener Aussage vertritt der Branchenverband „mehr als 1000 Mittelständler, über 400 Startups und nahezu alle Global Player”. Interessant ist ein Blick auf das Netzwerk, die sog. „Gremien” der Bitkom:

https://www.bitkom.org/NP-Bitkom/NP-Organisation/2018-09-Gremienstruktur-17.pdf

Und es lohnt sich auch ein Blick auf die Ziele und Aktivitäten im Bereich E-Health, um zu erkennen, mit welcher Vehemenz die Organisation auf dem Gesundheitsmarkt tätig ist. Ein Markt, dem die Bitkom ein hohes Wachstumspotenzial bescheinigt.

https://www.bitkom.org/Bitkom/Organisation/Gremien/E-Health.html

Für 2018 hat die Bitkom in ihren Verlautbarungen eine neue Digitaloffensive versprochen. Und es scheint, als trüge diese bereits Früchte, wenn allerorten über das unaufschiebbare Erfordernis einer digitalen Durchdringung schwadroniert wird. Wirtschaft, Bildungs- und Gesundheitswesen nehmen einen Platz auf den vorderen Rängen ein.

Bildungsrepublik Deutschland – eine Nebelkerze
Noch bevor jeder Erstklässler sein Smartphone befingern und sich bei stundenlanger Betrachtung der mickrigen Bildschirme die Augäpfel nachhaltig verformen *1) und das schuleigene Tablet als Lösung aller Bildungsprobleme gefeiert wird, sollte ganz analog sichergestellt sein,dass die Dächer und Fenster aller Schulen dicht, die Toiletten begehbar, die pädagogische und personelle Ausstattung einer „Bildungsrepublik“ angemessen und der Umgangston menschlich ist. Erst wenn der Bildungsnotstand im Lande restlos beseitigt ist, sollte der Staat einen Teppich an Breitbandkabeln ausrollen; denn dieser ist unbestreitbar wichtig, um den echten Nutzen einer Digitalisierung zu entwickeln.

Natürlich macht Digitalisierung dort einen Sinn, wo Wege eingespart werden und ein Mehr an Sicherheit möglich wird und ganz allgemein Kosten eingespart werden. Aber solange Meldeeinrichtungen nicht flächendeckend mit Fingerabdruck-Scannern ausgestattet sind, muss sich niemand in digitalen Phantasien verlaufen. Und im Übrigen ist es ein Automatismus, dass überall dort, wo die Digitalisierung in den Betrieben, in der Verwaltung und auch im Medizinbetrieb echte Verbesserungen und Erleichterungen bringt, sich diese ganz ohne jedes Spektakel von alleine vollziehen – ganz organisch und harmonisch und ohne dass gebetsmühlenhaft vorgetragene Forderungen oder gesetzlich durchgepeitschte Pressionen notwendig wären. Ganz aktuell zeigt die kostentreibende Durchsetzung einer bereits überholten Telematik-Infrastruktur mit all ihren Angriffspunkten, zu welchen Höchstleistungen Bundesminister fähig sind. Und nun will Minister Spahn, der bereits den Ruf aus dem Kanzleramt hört, den nächsten digitalen Dreisprung durch Befeuerung einer App zur Gesundheitsakte/Gesundheitskarte vollziehen. Austausch von Gesundheitsdaten zwischen Patienten, Ärzten und Krankenkassen über kontaktlos arbeitende digitale Endgeräte, deren Daten bereits nachweislich beim Antippen der App an diverse amerikanische Firmen weitergeleitet werden! Dazu ein erhellender Mailverkehr mit der Pressestelle des Bundesministeriums für Gesundheit zur Einführung der elektronischen Patientenakte „Vivy“ per App durch diverse gesetzliche und private Krankenversicherer *2).

Fazit: Digitalisierung ja, zumal es keinen Sinn macht, sie nicht dort anzuwenden, wo der Vorteil greifbar ist. Aber mit Bedacht und immer mit Blick auf eine Sinnhaftigkeit und ganz ohne Druck derer, die sich als Posaunisten eines vermeintlichen Fortschritts und als Verkaufshilfen betätigen.

Und jetzt muss ich schnell auf meinem digitalen Endgerät kontrollieren, ob in China schon wieder ein Fahrrad umgefallen ist …

Dr. Michael Loewener
Wedemark

*1) https://www.zeit.de/2018/23/kurzsichtigkeit-augenkrankheit-kinder-jugendliche-gefahr-smartphone

*2) Mailverkehr mit der Pressestelle des BMG zur Frage der Übertragungssicherheit medizinischer Daten per App – zur Einrichtung einer Patientenakte „Vivy“ diverser gesetzlicher und privater Krankenkassen:


An: Pressestelle BMG <Pressestelle@bmg.bund.de> Betreff: Presseanfrage zur elektronischen “vivy-gesundheitsakte”

Bundesministerium für Gesundheit (BMG)
Pressestelle
Friedrichstraße 108
10117 Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,

soweit mir bekannt geworden ist, beabsichtigt die “Vivy GmbH” aus Berlin noch im September die Einführung einer „Elektronischen Gesundheitsakte mit persönlicher Assistentin“. Patienten sollen sich danach unter Zwischenschaltung der Vivy-Gmbh per App mit Ärzten, Krankenkassen und Versicherern elektronisch vernetzen können. Das Vorhaben wird maßgeblich von einer Anzahl von Betriebskrankenkassen und Privatversicherern unterstützt. Federführend soll die Allianz unter dem Vorstand des ehemaligen Gesundheitsministers Daniel Bahr sein.

Da der gegenwärtige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ebenfalls die Einführung einer Gesundheitsakte einfordert, frage ich an, ob das BMG diese in Kürze geplante Parallelstruktur durch eine GmbH wünscht oder unterstützt. Und ob es nach Ansicht des BMG einen Sinn macht, ähnlich funktionierende Systeme zu installieren, ohne Unsicherheit bei allen Beteiligten befürchten zu müssen.

Gerne hätte ich für eine Veröffentlichung zu diesem Thema eine kurze Stellungnahme der Pressestelle des BMG erhalten.

Für Ihre Mühe danke ich im Voraus.

Mit freundlichen Grüßen aus Hannover

Michael Loewener
Freier Fachjournalist


An: “‘m.loewener
Betreff: AW: Presseanfrage zur elektronischen “vivy-gesundheitsakte”

Sehr geehrter Herr Dr. Loewener,

vielen Dank für Ihre Anfrage.

Die gematik ist verpflichtet bis zum 31. Dezember 2018 die Voraussetzungen für die Einführung der elektronischen Patientenakte nach §291a SGB V zu schaffen. Der Referentenentwurf des Gesetzes für schnellere Termine und bessere Versorgung (Terminservice- und Versorgungsgesetz – TSVG) sieht darüber hinaus vor, dass alle Krankenkassen ihren Versicherten spätestens ab dem 1. Januar 2021 elektronische Patientenakten zur Verfügung stellen müssen.

Gleichzeitig haben die Krankenkassen bereits heute die Möglichkeit, am Markt angebotene Aktenlösungen zu finanzieren. Um eine solche Aktenlösung handelt es sich bei Vivy. Es ist deshalb zu begrüßen, dass mit den Angeboten von TK, AOK und Vivy bereits erste Erfahrungen im Umgang mit entsprechenden Akten gesammelt werden können.

Wichtig ist, durch die Festlegungen der gematik wird die Interoperabilität der Aktensysteme gewährleistet.

Ob darüber hinaus weitere Regelungen erforderlich sind, wird die Bundesregierung im Rahmen der Vorbereitung eines Digitalisierungsgesetzes prüfen.

Mit freundlichen Grüßen

Im Auftrag

XXX


Betreff: Aw: AW: Presseanfrage zur elektronischen “vivy-gesundheitsakte”/Nachfrage

Sehr geehrter Herr XXX,

zunächst vielen Dank für Ihre Beantwortung.

Gestern habe ich einen Link erhalten, der mich zu einer weiteren Nachfrage veranlasst. https://www.kuketz-blog.de/gesundheits-app-vivy-datenschutz-bruchlandung/

Der Link führt zu einem bekannten Blogger, der sich mit “Vivy” sehr intensiv beschäftigt hat.

Im Ergebnis kommt der Fachmann zu der begründeten Einschätzung, dass bereits beim Anklicken der App eigene Daten an diverse – und mit Google verbundene – Firmen in die USA versandt werden – und das, bevor die Zustimmung zu den AGBs erfolgt ist.

Insofern hätte ich gerne zu dieser speziellen Thematik eine Stellungnahme des Bundesministeriums erfahren: Sieht das BMG es als akzeptabel an, wenn in Verbindung mit der Vivy-App – unbemerkt vom Benutzer – Daten ins Ausland versandt werden? Und hält es das BMG für absolut undenkbar, dass in der Folge auch Gesundheitsdaten abfließen?

Wenn sich die Realität tatsächlich so verhalten sollte, wie im Link beschrieben, dann sehe ich für die elektronische Patientenakte/Gesundheitsakte per App ein riesiges und medial bedeutendes Problem heranwachsen.

Für Ihre Antwort danke ich im Voraus.

Mit freundlichen Grüßen

Michael Loewener
Freier Fachjournalist


Referat LS7 – Pressestelle
Bundesministerium für Gesundheit
Friedrichstraße 108, 10117 Berlin

Sehr geehrter Herr Dr. Loewener,

ich bitte Sie um Verständnis, dass das BMG dazu keine Bewertung vornehmen kann. Ihre Fragen müssten Sie bitte an die Bundesbeauftrage für den Datenschutz und die Informationsfreiheit ( BfDI ) oder weitere für den Datenschutz zuständige Aufsichtsbehörden übermitteln.

Freundliche Grüße

XXX


Und wenn Sie dann noch unter dem folgenden Link die Einschätzung eines Fachmannes lesen, werden Sie sicherlich keine Fragen mehr haben. „Augen zu und durch“ – das scheint die Parole des BMG zu sein, egal mit welchen Folgen und egal zu welchen Kosten (anderer).

https://www.kuketz-blog.de/gesundheits-app-vivy-datenschutz-bruchlandung/

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