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Demokratie im Sinkflug.

6. Februar 2016 12:36

TTIP-Leseraum: Demütigung der Bundestagsabgeordneten durch Verhaltensregeln

(TTIP: Transatlantic Trade and Investment Partnership)

Wohlgemerkt, es geht bei TTIP nicht um Landesverteidigung oder Bündnisfragen, sondern ausschließlich um die Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen. Diese reichen unserer Regierung jedoch aus, um demokratische Grundgedanken beiseite zu schieben. Wie selbstverständlich werden die Interessen der Wirtschaft höher bewertet als die Interessen der Bevölkerung, vertreten durch ihre Abgeordneten. Und das Schlimmste ist, dass die große Mehrzahl unserer Volksvertreter diesem undemokratischen Treiben scheinbar gleichgültig zuschaut, ohne geschlossen und lautstark zu protestieren. Zu eng ist offensichtlich die Zwangsjacke innerhalb der Parteien geschnürt, und zu intensiv sind die Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft. Politik entwickelt sich mehr und mehr zum willfährigen Dienstleister der Wirtschaft. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass weiterhin vertraglich vorgesehene Regelungen in TTIP verschleiert werden sollen. Alleine die Tatsache, dass die komplizierten Vertragstexte nur in englischer Sprache zur Verfügung gestellt werden, macht die Absicht deutlich. Bekanntermaßen ist nicht jeder deutsche Abgeordnete  der englischen Sprache so mächtig wie EU-Kommissar Günther Oettinger.

Staatlich organisierte Verschleierung
Die Behinderungen stellen gewollt hohe Hürden dar, die es den Abgeordneten offensichtlich erschweren oder unmöglich machen sollen, den Souverän vor Vertragsabschluss über Inhalt und mögliche Auswirkungen zu informieren.

Hier seien unter dem Stichwort „Investitionsschutz“ nur die internationalen Schiedsgerichte, besetzt mit Vertretern von international agierenden Anwaltskanzleien, genannt, vor denen Konzerne und Weltunternehmen nach TTIP ganze Staaten auf Schadenersatz für entgangene Gewinne oder Gewinnerwartungen verklagen können.  Ihre Entscheidungen werden weder öffentlich gefällt, noch unterliegen sie einer demokratischen Kontrolle.

Handelsabkommen mit Verlust von Demokratie
Ferner gefährden die Abkommen TTIP (mit Amerika) und CETA (mit Kanada) in hohem Maße die europäischen Umwelt- und Verbraucherschutzstandards (Die VW-Schummelei bildet aktuell eine Ausnahme). Die ohnehin auf Masse statt Klasse reduzierte überwiegend industriell geführte Landwirtschaft  wird durch TTIP weiter unter Preisdruck geraten und die Scheunentore für gentechnisch veränderte und manipulierte Nahrungsmittel, die diese Bezeichnung kaum noch verdienen,  weit öffnen. Fremdkapital wird über den Atlantik fließen und auch den gesamten Gesundheitsbereich nach rein marktwirtschaftlichen und gewinnorientierten Gesichtspunkten fluten wollen. Berechtigterweise stellt sich auch die Frage, ob es eines ausgeklügelten und der nationalen Gerichtsbarkeit entzogenen Investitionsschutzes zwischen den USA und Ländern der EU überhaupt bedarf. Schließlich handelt es sich bei den Vertragspartnern nicht um unberechenbare und  rechtsfreie Bananenrepubliken, sondern um Staatsgebilde mit funktionierender und gefestigter Justiz. Ginge es nur um „Eigentumsschutz“, so stünden dafür Enteignungsversicherungen der Weltbank  oder zahlreicher anderer nationaler Versicherungsunternehmen  wie die „Overseas Private Investment Corporation“ zur Verfügung.

Briefkasten in den USA genügt
Denkbar ist auch, dass europäische Konzerne, die über einen Briefkastens in den USA verfügen, durch diesen preiswerten Trick das Mutterland auf Schadenersatz verklagen können. Weit hergeholt? Nein, die Realität spricht eine andere und harte Sprache. Die Energieriesen E.on und RWE haben wegen des beschleunigten Atomausstiegs vor dem Bundesverfassungsgericht Schadensersatzklage eingereicht.  Vattenfall klagt zudem vor einem US-Schiedsgericht. Eine Forderung von 4,7 Milliarden Euro steht im Raum.

Wie so eine Klage ablaufen kann, zeigen auch die Freihandelsabkommen mit Venezuela und Ecuador, auf die  jeweils 34 bzw. 23 Klagen entfallen. So z. B. die Klage des US-Ölkonzerns Chevron aufgrund eines bilateralen Investitionsabkommens. Zuvor war  Chevron  von ecuadorianischen Gerichten wegen massiver Umweltverschmutzung zu 9,5 Milliarden Dollar Schadenersatz verurteilt worden war. Letztlich hat ein US-Gericht die Sichtweise des US-Ölmultis bestätigt.

Und alles unter dem vagen Versprechen, hunderttausende zusätzlicher Arbeitsplätze hüben wie drüben  zu generieren. Wenn es auf allen Seiten nur Vorteile gibt, dann grenzt das an Zauberei. Nein, ungezügelter Wettbewerb hinterlässt beim Verteilungskampf auch immer Verlierer. Das gerne als Blendgranate missbrauchte armselige „Chlorhühnchen“ dient ausschließlich der Verschleierung der wahren und fundamentalen Auswirkungen. Vielmehr ist die Plünderung von Staatskassen und die Aushebelung demokratischer Strukturen durch Weltkonzerne zu befürchten.

Wie in der Justizvollzugsanstalt
Nach erstem Murren und Protesten von diversen Nichtregierungsorganisationen dürfen ab 1. Februar  2016 Bundestagsabgeordnete die TTIP-Verhandlungsdokumente einsehen. Die Beschränkungen und Behinderungen dabei entsprechen jedoch einer einzigen Demütigung unserer Bundestagsabgeordneten. So müssen die Abgeordneten folgende Beschränkungen beachten, die man eher im Besucherraum von Haftanstalten vermutet:

  • Es muss ein Termin in einem speziell eingerichteten Leseraum im Wirtschaftsministerium vereinbart werden.
  • Es dürfen keine Handys oder andere elektronische Geräte mitgenommen werden. Taschen müssen in Schließfächern eingeschlossen werden.
  • Es dürfen keine eigenen Stifte oder Blöcke benutzt werden.
  • Sie stehen im Leseraum durchgehend unter Beobachtung und müssen nach dem Verlassen ihre Notizen vorzeigen!
  • Die Dokumente liegen nur in englischer Sprache vor.
  • Sie dürfen mit niemandem, nicht einmal mit den eigenen Mitarbeitern, über das Gelesene sprechen. Dringen Details aus dem Leseraum nach außen, wird dieser wieder geschlossen.
  • Es muss eine Verschwiegenheitserklärung abgegeben werden.

Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat Bedenken
Widerspruch zu TTIP kommt auch aus den USA. Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz wird deutlich, wenn er sagt:
“Vor allem, weil es ja im Kern gar kein Handelsabkommen ist, sondern eher der Versuch, amerikanische Regeln aus dem Verbraucher-, Arbeitnehmer- und Umweltschutz auf Europa zu übertragen. Zumindest nach allem, was man aus diesen intransparenten Verhandlungen herauslesen kann. Ich glaube, die Gefahren von TTIP werden in Deutschland nicht übertrieben, sie werden unterschätzt. Der Nutzen für den Handel wäre nicht wirklich groß, der Schaden für Verbraucherschutz und Demokratie aber schon”.

http://www.wiwo.de/politik/europa/joseph-stiglitz-ttip-ist-ueberfluessig-und-gefaehrlich/12868460-all.html

Kaum merklicher Verlust der Freiheit
Natürlich geht die Freiheit in Europa nach Abschluss dieser geheimen Vereinbarungen nicht schlagartig verloren, aber der Prozess ist schleichend. Und er ist konsequent. Die zum Teil obszöne Macht von Weltkonzernen wirft ihre Schatten auch auf Europa. Die Absaugung digitaler Daten und ihre Auswertung durch Konzerne war der erst spät erkannte Anfang. TTIP ist weitaus klarer definierbar.

Freiheitsgrade gehen bereits durch innereuropäische Regelungen Stück für Stück verloren, ohne dass Widerstand aufbrandet. Kleines Beispiel: Erinnern wir uns an die Einschränkung der Wahlmöglichkeit im Berufsalltag. Als Arbeitgeber darf ich nicht mehr darüber entscheiden, wen und aus welchen Gründen ich jemanden einstellen möchte. Ich muss das Stellenangebot mit Begriffen wie „m/w“ schmücken, um nicht kostenpflichtig abgemahnt zu werden. Eine Farce, wie wir alle wissen, zu der wir freie Bürger genötigt werden. Der Verlust eines Grundrechtes, wie ich meine. Natürlich gibt es neben dieser Lappalie weitere Zeichen des Rechtsverlustes der „mündigen“ Bürger. Der neueste Coup der Regierenden, den Zahlungsverkehr mit Bargeld einzuschränken, lässt nichts Gutes ahnen…

Seien wir wachsam!

Dr. Michael Loewener, Wedemark

 

Für Interessierte:
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/09/2014-09-23-ttip-buergerdialoge.html

http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-01/ttip-transparenz-abgeordnete-vertraege-redeverbot

http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-10/freihandelsabkommen-ttip-folgen-schaden

http://www.mehr-demokratie.de/ttip_ist_gift_fuer_demokratie.html

http://www.mittelstand-die-macher.de/recht-finanzen/handels-steuerrecht/ttip-die-3-wichtigsten-pro-und-contra-argumente-9049

http://www.bmwi.de/DE/Themen/Aussenwirtschaft/Freihandelsabkommen/ttip.html

http://www.umweltinstitut.org/themen/verbraucherschutz-ttip/verbraucherschutz-uebersicht.html

https://www.abgeordnetenwatch.de/suche?s=ttip

https://www.greenpeace.de/search/ttip

https://blog.campact.de/2016/02/ueberwacht-und-unter-zeitdruck-3-abgeordnete-berichten-aus-dem-ttip-leseraum/

http://www.handelsblatt.com/politik/international/licht-und-schatten-nach-zehn-jahren-freihandel-die-nafta-hilft-mexiko-weniger-als-erhofft/2294746.html

http://www.epochtimes.de/politik/deutschland/leseraum-fuer-ttip-dokumente-nur-unter-strengen-auflagen-zugaenglich-a1302014.html

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