Journalismus oder Agitation? „Vorsicht – Ihr Arzt könnte Sie betrügen!“
Wir lesen in der „Wirtschaftswoche“ vom 05.01.2023 auf Seite 30 als Überschrift: „Vorsicht – Ihr Arzt könnte Sie betrügen!“ Ja, liebe Leserin und lieber Leser, das mag wahr sein, aber mit gleicher Qualitätsanmutung ließe sich auch feststellen: „Vorsicht – Ihr Periodikum könnte Sie belügen!“
Gleich zu Beginn ihrer ebenso umfangreichen wie mangelhaft recherchierten Klageschrift kann die Autorin der „Wirtschaftswoche“ das Wasser nicht halten und weiß zu berichten, dass Ärzte, Pflegedienste und Physiotherapeuten „das Gesundheitssystem mit falschen Ab-
rechnungen um viele Milliarden“ zu Lasten der Beitragszahler erleichtern. Und es folgt die frohe Botschaft, dass nach einem „Rezept aus Bayern“ nun ermittelt werden solle. Schließlich seien die „zahlenden Patienten“ alle „willenlos und unmündig“. Und dann offenbart die Autorin, dass (in dem herrschenden anonymen Sachleistungssystem) gesetzlich Versicherte die Rechnungen meist „gar nicht erst zu Gesicht“ bekämen. In der Tat ist das ein großer und auch von Zahnärzten und Ärzten stets beklagter Mangel; denn andernfalls könnten Patienten auf diese Weise erfahren, dass eine einfache Zahnfüllung von den Kassen mit 38,13 € honoriert wird. Mit 11,98 € ist die Honorierung zum Einfachsatz nach der für Privatversicherte geltenden Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) noch geringer. Erst mit dem 3,2-fachen Steigerungssatz der GOZ wird in etwa das Kassen-Honorar erreicht.
Und dann jongliert die Autorin leichtfertig mit Zahlen, wenn sie fabuliert: „Ärztinnen und Ärzte, Pflegedienste und Physiotherapeuten bereichern sich mit falschen Abrechnungen jedes Jahr um Tausende Euro; die Beträge dürften sich zu einem Milliardenschaden für das Gesundheitssystem summieren – zulasten der Beitragszahler“. Später versteigt sich die „Journalistin“ sogar zu einer möglichen Schadensumme durch Betrug im deutschen Gesundheitssystem in Höhe von 28 Milliarden Euro. Zu diesem Ergebnis käme eine „Dunkelfeldstudie der britischen Universität Portsmouth“, lässt uns die Autorin wissen. In der Tat spielt sich die Rechenkunst der Autorin in tiefer Dunkelheit ab; denn diese „Studie“ bezieht sich auf Britannien, wie sie selbst erwähnt. Der Einfachheit halber wird sie kurzerhand auf Deutschland extrapoliert. Sorgsame Recherche sieht anders aus!
Rechnen wir einmal nach: In Deutschland waren im Jahr 2021 insgesamt 416.120 berufstätige Ärztinnen und Ärzte sowie 72.592 Zahnärztinnen und Zahnärzte aktiv tätig (davon 50.022 in eigener Praxis niedergelassen und 22.570 in einem Angestelltenverhältnis in Praxen, MVZs oder anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens). Die Anzahl der zugelassenen Heilmittelerbringer/Praxen im Bereich Physiotherapie lag 2019 bei 38.785. Im Jahr 2021 wurden deutschlandweit 16.115 Pflegeheime und 15.376 ambulante Pflegedienste gezählt. Es verlangt nicht nach hoher Rechenkunst, um herauszufinden, dass aufgrund dieses „Zahlenmaterials“ jeder einzelne Mediziner, Physiotherapeut, ambulanter Pflegedienst und jedes Pflegeheim in diesem Land durchschnittlich einen statistischen Betrugsschaden von rund 50.000,- € verursacht haben müsste. Ein Sumpf des Betruges unter Führung der Ärzteschaft – oder eine Journalistin mit Dyskalkulie?
Im Jahr 2021 lagen die Ausgaben der GKV bei 285,0 Milliarden Euro, dabei beliefen sich die reinen Leistungsausgaben auf rund 263,4 Milliarden Euro, davon alleine für den Krankenhaussektor 85,9 Milliarden €. Die gesetzlichen Krankenkassen gaben im Jahr 2021 lt. GKV-Spitzenverband insgesamt für ärztliche Behandlung 44,78 Milliarden € (17 % aller Leistungsbereiche) und für zahnärztliche Behandlung (ohne Zahnersatz) 12,39 Milliarden € (4,71 % aller Leistungsbereiche) aus.
https://www.gkv-spitzenverband.de/service/zahlen_und_grafiken/gkv_kennzahlen/gkv_kennzahlen.jsp
Zudem werde, so die Autorin des Handelsblattes, „die notorische Intransparenz des ärztlichen Abrechnungswesens auch noch mit stetig steigenden Sätzen finanzieren“. Die Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) kann sie nicht gemeint haben; denn diese „feiert“ in dieser Zeit gerade ihre 35-jährige (fünfunddreißigjährige) Stagnation. Um es noch verständlicher auszudrücken: Seit 35 Jahren hat es keine Punktwertsteigerung bei Zahnärztinnen und Zahnärzten in der privaten Gebührenordnung gegeben! Dieser Umstand ist offenbar so unglaublich, dass er nicht in das Bewusstsein von Zeitungsmachern vorzudringen vermag. Das kennen wir, und insofern kann uns das auch nicht überraschen – lediglich das Ausmaß an Unwissenheit oder gar der bösen Absicht ist in diesem Fall außergewöhnlich.
Die sorglose Recherche des Beitrages der „Wirtschaftswoche“ und der Tenor der Mutmaßungen zielt offensichtlich darauf ab, das gewachsene und von Vielen geneidete Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Ärzten zu zerstören. Über die wahren und möglicherweise vielfältigen Beweggründe für dieses journalistische Traktat darf sich jeder selbst seine Gedanken machen. Ob die Redaktion der „Wirtschaftswoche“ ihre Leserschaft auf dem Niveau der Yellow-Press suchen möchte, muss sie selbst entscheiden.
Dr. Michael Loewener, Wedemark
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